Ein Stresstest für demokratische Entscheidungen

Ein 1. Stresstest zur Sicherheit der Energieversorgung wurde von März bis Mai 2022 durchgeführt und ging von folgenden Annahmen aus: Russisches Gas fällt aus, der Gaspreis steigt stark an, eine hohe Zahl französischer Atomkraftwerke ist außer Betrieb und Deutschlands Atomkraftwerke sind abgeschaltet. Es zeigte sich, dass die Versorgungssicherheit im bevorstehenden Winter nicht gefährdet ist und die letzten drei AKW planmäßig gemäß Atomgesetz abgeschaltet werden können. Das Fazit zu einem Weiterbetrieb lautete: „Eine Verlängerung der Laufzeiten könnte nur einen sehr begrenzten Beitrag zur Lösung des Problems leisten, und dies zu sehr hohen wirtschaftlichen Kosten und mit Abstrichen an den notwendigen Sicherheitsüberprüfungen – und das bei einer Hochrisikotechnologie.“ Nach wenigen Monaten wurde ein 2. Stresstest zwecks Entscheidung über eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke durchgeführt, der „ergebnisoffen“ sein sollte, was schließlich nur bedeuten konnte, dass der Weg zu einer erneuten Laufzeitverlängerung grundsätzlich geöffnet werden sollte. Durch Verschärfung der Szenarien konnte eine solche Option auch geschaffen werden, damit alle Beteiligten im Koalitionsgerangel ihr Gesicht wahren können. Wirtschafts- und Energieminister Habeck hat jetzt vorgeschlagen: Es bleibt grundsätzlich beim Atomausstieg! Das AKW Emsland geht planmäßig vom Netz. Neckarwestheim 2 und Isar 2 bleiben als „Reserve“, um sie bei Bedarf bis April einsetzen zu können, falls in Süddeutschland eine Netzinstabilität droht, bzw. Frankreich weiter Probleme mit seinen Atomkraftwerken haben sollte.

Aus Sicht von Atomkraftgegnern ist das zwar ein fauler Kompromiss, aber von den vielen noch schlechteren Varianten vielleicht die erträglichste. Im Idealfall werden die beiden AKW im Dezember abgeschaltet und bleiben es auch. Der mögliche Resevebetrieb wirft allerdings viele rechtliche und sicherheitstechnische Fragen auf: Sicherheitsprüfungen und Betriebserlaubnis laufen ab, im AKW-Neckarwestheim gibt es gefährliche Korrosionsrisse im Wärmetauscher, für die Stromproduktion oder gar den Strompreis sind die verbleibenden Kapazitäten kaum von Belang, um nur wenige Probleme zu nennen. Außerdem werden die Atomkraft-Befürworter nicht ruhen, aus dem Reservebetrieb einen Wiedereinstieg zu machen.

Der Atomausstieg darf auf keinen Fall erneut gekippt werden. Nach jahrzehntelanger gesellschaftlicher Diskussion mit teils bitteren Auseinandersetzungen, nach wiederholten Entscheidungsrevisionen zwischen Laufzeitverlängerung und Ausstieg, wäre eine Verlängerung dieses Dauerkonfliktes eine Katastrophe für den Diskurs und die Entscheidungsfindung in unserer Republik. Eine erneute Kehrtwende würde grundlegende Zweifel an der Zuverlässigkeit demokratischer Einigungen und ihrer Umsetzung aufwerfen. Wie soll eine Gesellschaft funktionieren, in der alle paar Jahre grundlegende Entscheidungen wieder in ihr Gegenteil verkehrt werden?

Aktuell gibt es wahrlich große Herausforderungen zu meistern, wenn wir z.B. an den Krieg in Europa, die sich zuspitzende Klimakatastrophe oder die fortschreitende soziale Spaltung denken, um nur einige zu nennen. Eine erneute Auseinandersetzung um die Atomkraft muss man nicht noch zusätzlich entfachen, denn sie nützt nur denen, die unsere Gesellschaft weiter destabilisieren wollen. Es droht eine Zerreißprobe in der Regierung, eine Identitätskrise für die Grünen und sozialer Unfrieden in der Gesellschaft. Von bestimmten Kreisen und politischen Parteien wird dies derzeit bewusst angestrebt, weil sie dem politischen Gegner schaden und sich in populistischer Weise Vorteile verschaffen wollen. Sie opfern dafür sogar den von ihnen selbst gefassten und von ihrer eigenen Kanzlerin vertretenen Beschluss. Für die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit unserer Demokratie und für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist diese Taktik fatal.

Einfache Auswege gibt es weder aus der Energiekrise noch aus der Klimakatastrophe. Der geringe Nutzen der verbliebenen Atomkraftwerke in der gegenwärtigen Gaskrise ist allgemein bekannt. Eine kurzfristige Entspannung bei unseren Energieproblemen ist mit ihnen nicht zu erzielen. Außerdem bleiben die grundsätzlichen Gefahren und Entsorgungsprobleme, die aus gutem Grund zum Ausstiegsbeschluss geführt haben, selbstverständlich weiterhin bestehen. Schalten wir daher endlich die Atomkraftwerke ab. Sie sind Teil der fossilen Menschheitsepoche, die wir schnellstmöglich zugunsten der erneuerbaren Energien überwinden müssen. Das Gelingen der Energierevolution entscheidet über die Eindämmung der Klimakatastrophe und den Fortbestand einer Zivilisation, die auch in Zukunft noch ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.

Ziel der Anti-Atom-Radtour erreicht!?

Unter dem Motto „dem Atomausstieg entgegen“ ging es vorbei an noch laufenden und bereits abgeschalteten Atomkraftwerken, an Atommüll-Zwischenlagern, geplanten Deponien, Atomproduktionsstätten und Schauplätzen des Widerstandes gegen die Atomkraft. Insgesamt legten die Radler*innen mehr als 2.400 km auf ihren Touren durch Norddeutschland (Tihange – Gorleben) und Süddeutschland (Hanau – Freiburg) zurück. An unzähligen Stationen gab es Stopps mit Kundgebungen, Erfahrungsberichten von Aktiven, Statements und Kulturbeiträgen. Diese – vermutlich längste Fahrraddemo aller Zeiten –  erstreckte sich über die Sommermonate Juli und August und endete am 3. September mit einer Abschlussveranstaltung in Freiburg. Bei www.ausgestrahlt.de gibt es dazu ausführliche Infos, Berichte und einen umfangreichen Blog mit Fotos, auf dem man die einzelnen Etappen und Aktionen nachvollziehen kann.

Was als große Atom-Ausstiegs-Tour geplant war, wurde allerdings zunehmend von der Diskussion über eine erneute Laufzeitverlängerung überlagert. Die Anti-Atom-Tour wurde damit auch zu einem großen Statement gegen die Renaissance der Atomkraft, die von mächtigen Kräften in unserem Land seit langem angestrebt wird. Der 2. Stresstest zur Sicherheit der Stromversorgung dient als Grundlage, um den Ausstieg zumindest zu verögern. Vergleiche dazu unseren gesonderten Eintrag „Ein Stresstest für demokratische Entscheidungen“.

Die Anti-Atom-Radtour hat zwar ihr Ziel Freiburg erreicht, aber noch sind die letzten drei Atomkraftwerke nicht abgeschaltet. Niemals seit 2011 war die Gefahr einer Atomkraft-Renaissance größer als heute. Die Anti-Atom-Fahne muss daher weiterhin wehen. Unabhängig vom Atomausstiegsbeschluss und dem Abschalten der Atomkraftwerke geht z.B. auch die Produktion von Brennelementen munter weiter. Bei den vielen weltweit noch verbleibenden Atomkraftwerken und Atomwaffen sind wir vom Ziel eines echten Atomausstiegs noch recht weit entfernt. Fotos von der Anti-Atom-Radtour, an der sich auch Quersteller*innen aus Friedberg auf Teilstrecken beteiligten, befinden sich im Menü Fotos.